Kindersexualität

 

 

 

 

 

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Peter Thiel - Systemischer Berater und Therapeut (DGSF

04.05.2011

 

 

 

 

 

Schlüsselwörter:

Doktorspiele, Jungen, Jungensexualität, Kindersexualität, Mädchen, Mädchensexualität, Penis, Sexualisierung, Sexualität, Vagina

 

 

 

 

Während nahezu jede/r unbedarfte Bürger/in meint, etwas zum Thema "Kindesmissbrauch" sagen zu können - seine Informationen scheint man oft der BILD-Zeitung entnommen zu haben - so trifft man in der Regel eine große Sprach- und Ahnungslosigkeit an, wenn es um das Thema kindliche Sexualität geht:

 

"So wie das sich ständig ändernde Verhältnis von normalisierter Abwesenheit und pathologischer Anwesenheit (Phoenix 1987) die Repräsentation untergeordneter Gruppen in jeder Gesellschaft kennzeichnet, werden auch die Formen, Inhalte und Beziehungen der Sexualität junger Leute vom massiven Gewicht der durch sie provozierten gesellschaftlichen Ängste erdrückt. Kindliche Sexualität wird nur insofern als ein gesellschaftliches Problem gesehen, als sie gesetzlich reguliert, therapeutisch analysiert oder sonstwie wegverhandelt werden muss. Neben der gewaltigen Aufhäufung von Kinderschutzgesetzen, Enthüllungs- und Vernehmungsprotokollen gibt es außerhalb des pathologisierenden Rahmens wenig zur Sexualität von Kindern. Tatsächlich betrifft dies ebenso erwachsene, denen sich bei der Analyse ihrer Kindheitserfahrungen, die Adaption von Verletzungs- und Opferdiskursen als eine Möglichkeit bietet, Schuldgefühle und rechtliche Verantwortlichkeit abzuwehren."

Burman, Erica: "Kinder und Sexualität", In: "Das Argument"; 260/2005, S. 238

 

 

Offenbar gibt es relativ wenig gesicherte Kenntnisse über das Thema kindlicher Sexualität. Die Psychoanalyse behauptet noch am ehesten darüber Bescheid zu wissen, allerdings scheint sie ihr vermeintliches Wissen zumeist nur aus den retrospektiven Analysen mit Erwachsenen gewonnen zu haben, wo die Gefahr sehr nahe liegt, Wirklichkeit rückwirkend zu erfinden, bzw. zu konstruieren. 

Am ehesten könnte man noch in der direkten Arbeit mit Kindern Auskunft über das Thema kindlicher Sexualität erhalten. Eine solche Arbeit dürfte jedoch nicht ganz ungefährlich sein, da das kollektive Tabu kindliche Sexualität eine solche Arbeit unter potentieller Strafandrohung stellen dürfte. 

 

 

 

Das Thema Kindersexualität ist gesellschaftlich und individuell noch stärker tabuisiert als die Sexualität der Erwachsenen, zusätzlich lauern hier noch selbsternannte Moralwächter/innen, die sich des Themas in der Weise annehmen, dass sie ihre eigenen sexuellen Probleme und Kontrollzwänge in Gestalt eines Ungeheuers mit Namen sexueller Missbrauch über das Land wabern lassen oder ausleben.

Gibt man in der Suchmaschine Google den Begriff "Sexueller Missbrauch" ein, erhält man 1.050.000 Trefferanzeigen. Gibt man dagegen den Begriff "Kindersexualität" ein, so erhält man gerade 750 Trefferanzeigen (18.07.2006). Von daher müsste man davon ausgehen, dass es eine "Kindersexualität" eigentlich nicht gibt und die wenigen Internetseiten auf denen etwas zu diesem Thema steht, von pädophilen Männern und Frauen unterhalten werden, die ihre eigene Lust am Kind auf diese Weise propagieren wollen.

Eigenartiger Weise meint zwar fast jede/r Bürger/in über das Thema "Sexueller Missbrauch von Kindern" etwas zu wissen, aber kaum jemand kann oder traut sich etwas profundes zum Thema "Kindersexualität" sagen, gerade so als ob Kinder asexuelle Wesen wären. Dies ging vor 100 Jahren auch noch den Frauen so, denen eine eigene Sexualität gesellschaftlich mehr oder weniger  abgesprochen wurde. Frauen und Kinder standen in dieser Tradition auf der gleichen ihnen zugewiesenen asexuellen Infantilität. 

Die heutige Vernachlässigung des Themas "Kindersexualität" scheint dagegen recht eng mit dem Thema "Sexueller Missbrauch von Kindern" verknüpft zu sein, möglicherweise wird die Gefahr für recht groß gehalten zu werden, dass jemand, der sich mit dem Thema "Kindersexualität" auseinandersetzt, als potentieller Kindesmissbraucher denunziert werden könnte. Bei der allgemein herrschenden gesellschaftlichen Hysterie und Paranoia beim Thema "Sexueller Missbrauch" könnte das nicht all zu sehr verwundern. Hinzu kommen die allgemein hohen gesellschaftlichen Tabuschranken, mit der das Thema "Kindersexualität" eingegrenzt ist. Nur gelegentlich wagt sich mal ein Sexualforscher vor und publiziert zum Thema "Kindersexualität", so z.B.: 

 

Schmidt: Gunter: "Kindersexualität - Konturen eines dunklen Kontinents", In: "Zeitschrift für Sexualforschung", 2004; 17; 312-322

 

 

Reich und bekannt werden kann man als Wissenschaftler oder psychosozial tätige Fachkraft mit dem Thema "Kindersexualität" offenbar nicht, sonst hätten wir jährlich wenigstens genau so viele publizierte Aufsätze, wie die nicht enden wollende Flut an Aufsätzen zum Thema "Sexueller Missbrauch", wo denn auch der letzte hinterwäldlerische Psychologe oder Sozialarbeiterin meint, sich öffentlich äußern zu müssen und eigene Fachkompetenz zu demonstrieren, wo es in Wirklichkeit nur darum geht, die eigene Stromlinienförmigkeit im allgemeinen Mainstream zu beweisen.

 

 

 

 

 

Literatur: 

Erica Burman: "Kinder und Sexualität", In: "Das Argument"; 260/2005, S. 237-252

Susan Fritz: "Und wenn man einfach darüber spricht. Das Thema `Sexualerziehung` in der Kita.",  In: ""klein&groß", 5/2003, S. 31-34

Friedl Früh: "Die sexuelle Brust. Ein Beitrag zu einem psychoanalytischen Verständnis der weiblichen Sexualität"; In: "Psyche - Zeitschrift für Psychoanalyse", 57, 2003, 285-402

Gunter Schmidt: "Kindersexualität - Konturen eines dunklen Kontinents", In: "Zeitschrift für Sexualforschung", 2004; 17; 312-322

"Körper, Liebe Doktorspiele. Ein Ratgeber für Eltern zur kindlichen Sexualentwicklung vom 1. bis zum 3. Lebensjahr; Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, 2006

Reinhard Winter: "Jungen, Sex und `neue` Moral", In: "jugend & gesellschaft", 4/1998, s. 10-12

Reinhard Winter; Georg Neubauer: "Kompetent, authentisch und normal? sexualaufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärungsrelevante Gesundheitsprobleme, Sexualaufklärung und Beratung von Jungen", Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung, Köln, 1998

 

 

 

 

 

 

 

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-----Ursprüngliche Nachricht-----

Von: ...

Gesendet: Dienstag, 18. Mai 2010 16:33

An: info@maennerberatung.de

Betreff: Kuss auf den Penis

 

Guten Tag,

meine Tochter (6 Jahre) schläft einmal die Woche bei mir und meiner Lebensgefährtin, die einen Sohn hat (5 Jahre). Die zwei sind sehr gut befreundet und verstehen sich, bis auf die üblichen Streitereien zwischen Kindern, wirklich sehr gut!! Vorübergehend müssen die zwei in einem Zimmer, aber getrennten Betten schlafen. Vorgestern ist es vor dem Einschlafen, als die zwei alleine waren, passiert, dass er sie auf die Scheide und sie ihn auf den Penis geküsst hat. Davon haben wir nix mitbekommen, aber meine Tochter hat es meiner ex-Frau erzählt und nun ist für meine ex natürlich Holland in Not. Sie möchte mir verbieten die beiden in einem Zimmer schlafen zu lassen, während ich das eher in der Rubrik Neugierde/Doktorspiele einordne.

Was sagen Sie zu dem geschilderten Vorgang: Eher bedenklich oder relativ normal???

Danke vorab und Gruss

 

 

 

 

Hallo Herr ...,

ich glaube, dass das Verhalten der Kinder sicher nicht ungewöhnlich ist. Kinder kennen ja noch nicht die Tabus der Erwachsenen, warum sollten sie sich dann nicht auch unbefangen auf den Penis und die Scheide küssen.

Beunruhigend wäre das Verhalten nur dann, wenn das Küssen auf Penis und Scheide im Kontext einer Sexualisierung der Kindes geschehen würde, so wie es möglicherweise bei Kindern vorkommt, die in übergriffigen Familiensystemen leben. Dann würde man den Kinder aber auch anmerken, dass sie aus einem solchen übergriffigen Familiensystem kommen.

Wichtig ist, dass Kinder weder bewusst noch unbewusst von Erwachsenen zu sexuellem Verhalten angehalten oder animiert werden. Was die Kinder unter sich ausmachen ist im Grunde deren Sache, so lange wie sich die Kinder dabei wohlfühlen.

Man muss allerdings den öffentlichen Kontext beachten, so wie man dem Kind sagen wird, dass es in der Öffentlichkeit nicht in der Nase bohren soll, so wird man ihm auch sagen, dass es nicht üblich ist, in der Öffentlichkeit zu masturbieren oder sich gegenseitig auf Penis und Scheide zu küssen. Das mag in 20 Jahren anders sein, 

Das nennt man auch Kultur. Sigmund Freud war bekanntlich der Meinung, dass der Kultur die Lust unterzuordnen ist. Er war eben einer zwanghafter Mensch mit strengem Über-Ich.

Woanders ist man noch rigider, so etwa in Saudi-Arabien, wo Mädchen verhüllt durch die Gegend laufen müssen. Wer da mit seinen Kindern nackt am Strand baden würde, der hätte wohl mit der Todesstrafe zu rechnen.

 

 

Ministeriumsentscheid

Saudis erlauben Feuerwehr, Mädchen zu retten

Das Erziehungsministerium von Saudi-Arabien hat entschieden, dass Feuerwehrmänner künftig auch Mädchen retten dürfen. Wächter der islamischen Religionspolizei hatten vor Jahren Schülerinnen daran gehindert, ein brennendes Gebäude zu verlassen - weil sie keine Kopftücher trugen.

Riad - Acht Jahre nach dem Brand in einer Mädchenschule in Mekka zog das Erziehungsministerium des streng muslimischen Landes entsprechende Konsequenzen aus einem Skandal, der 15 Schülerinnen damals das Leben gekostet hatte. Die Zeitung "Saudi Gazette" berichtete am Montag, das Ministerium habe nun allen Schulleitern und dem Wachpersonal "klare Anweisungen" gegeben, dass Rettern in Notfällen sofort Zugang zum Schulgelände gewährt werden muss.

In jedem anderen Land der Welt wäre dies eine Selbstverständlichkeit. Doch in der Pilgerstadt Mekka hatten Wächter der islamischen Religionspolizei im März 2002 Schülerinnen am Verlassen eines brennenden Schulgebäudes gehindert. Der Grund: Die Mädchen trugen keine Kopftücher und keine langen Gewänder. Augenzeugen hatten damals berichtet, die Religionspolizisten hätten die Schülerinnen sogar geschlagen.

Mitarbeiter der Behörde für die Förderung der Tugend und die Verhinderung des Lasters bewachen auch heute noch die Mädchenschulen des islamischen Königreichs. Sie sorgen dafür, dass niemand gegen die staatlich vorgeschriebene Geschlechtertrennung verstößt. Da kein Junge oder Mann das Schulgelände betreten darf und die Mädchen nur von Lehrerinnen unterrichtet werden, ziehen die Schülerinnen ihre Kopftücher und schwarzen Gewänder normalerweise am Eingang aus.

jjc/dpa

17.05.2010

http://www.spiegel.de/panorama/gesellschaft/0,1518,695181,00.html

 

 

 

Nun ja, das ist ganz schön krass, 15 Mädchen müssen sterben, damit die gesellschaftlichen Sitten eingehalten werden.

Doch auch in Deutschland wacht eine nach Tausenden zählende ehrenamtliche Sittenpolizei darüber, dass keiner die ungeschriebenen Regeln des christlichen Gottesstaates verletzt. Zum Glück agieren diese deutschen Gotteskrieger/innen nicht mehr ganz so ungeniert wie zu Zeiten der Inquisition.

Das beste in Ihrer Angelegenheit wäre vielleicht, dass Sie zusammen mit der Mutter mal in eine sexualpädagogische Beratungsstelle gehen, so z.B. bei Pro Familia gehen und sich gemeinsam mit einem Berater über das Thema austauschen. So könnten bestehende Irritationen für die Zukunft ausgeräumt werden.

 

Gruß Peter Thiel

 

 

 

 


 

 

 

-----Ursprüngliche Nachricht-----

Von: ...

Gesendet: Dienstag, 15. Juli 2008 20:33

An: info@maennerberatung.de

Betreff: sexualität meines 5-Jährigen

 

Guten Tag Herr Thiel

ich habe ein paar Fragen. Mein Sohn (5Jahre) gab heute seiner Kindergartenfreundin einen Abschiedskuss. Danach setzte er sich auf meinen Fahrradsattel und sagte: "Aua, mein Penis tut weh". Frage von mir: "Wieso denn?" Antwort von ihm:" Immer wenn ich ein hübsches Mädchen sehe, oder xy küsse, wird mein Penis ganz lang". Also eine Errektion. War schon ziemlich komisch für mich, denn Fragen, was Sex ist, und dass er Sex mit mir machen will, war ich schon gewohnt und erklärte ihm, dass es nicht möglich sei. Weil ich erstens seine Mutter bin, und zweitens sein Körper erst dementsprechend erwachsen werden muss, um es dann mit einer Freundin tun zu können. Er steckt mir beim GuteNachtKuss auch gern mal die Zunge in den Mund oder will meine Brüste berühren. Dass es eine anscheinend normale frühkindliche sexuelle Entwicklung ist, denke ich schon. Aber wie gehe ich damit um? Ich finde es komisch, dass er mit fünf schon so sehr interessiert ist. Er benutzt auch viele sexualisierte Wörter und sagt: "Lutsch meinen Penis". Wie kann ich ihm sagen, dass er damit bei manchen Leuten Grenzen überschreitet. Ich fühle mich etwas überfordert, denn ich bin als Kind von meinem Vater mißbraucht worden und will dieses Sexthema nicht tabuisieren, ihn aber auch sensibel machen, was sexuelle Gebärden gegenüber Erwachsene betrifft. Die Mütter auf dem Spielplatz gucken mich bei manchen Äusserungen meines Kindes an, als würde ich ihn abends Pornos zeigen? Nach dem Motto: so was kann er ja nur von zu Hause gelernt haben. Ich selbst bin erstaunt über sein Interesse. Selbst das Wort "Penis" hat er von Kindern übernommen.

Früher war es einfach der Piepmann. Er war auch früh von der Erotikwerbung im Schaufenster einer Videothek begeistert und blieb vor den spärlich bekleideten Damen stehen und sagte: "Die sind sooo schön, die will ich küssen."

Vielleicht haben sie ja einen kleinen Lesetipp oder eine Antwort, wie ich damit umgehe und ihm sanft klar mache, dass manche Dinge "privat" sind, und er nicht immer in aller Öffentlichkeit darüber spricht, bzw. seine Gedanken oder Penisschau anderen aufzwingt, wenn man das so überhaupt sagen kann. (Ich meine damit nicht mich, sondern, dass sich andere Kinder oder Erwachsene darüber pikieren)

 

Liebe Grüße

...

 

 

 

 

Hallo Frau ...,

 

für mich stellt sich die Frage ob man nicht, anstatt Kinder an rigide Ansichten in der Gesellschaft anzupassen, besser die Gesellschaft an die Bedürfnisse der Kinder anpassen sollte.

Ansonsten gilt für mich das Prinzip, dass auch Kinder lernen sollten, dass es gesellschaftliche Regeln gibt, und dass man sie - wenn sie sinnvoll erscheinen- auch einhalten sollte, so z.B. nicht jeden Menschen von dem man sich geärgert fühlt anzuspucken.

Andererseits bedarf es auch der Grenzüberschreitung, sonst ersticken wir wie in der Endphase der DDR in der Stagnation oder es gibt einen großen Knall, in dem sich die aufgestaute Aggression der Menschen mitunter auch gewalttätig entlädt.

 

Noch einmal zu ihrer Frage, ich meine soziales Zusammenleben funktioniert nur dann, wenn einerseits Regeln eingehalten werden und andererseits Regeln nicht eingehalten werden.

So erscheint es mir sinnvoll, seinem Kind einerseits auf bestehende Regeln hinzuweisen oder auch deren Einhaltung zu fordern, wenn dies sinnvoll erscheint und andererseits nicht jede Regel einzuhalten, wenn diese sinnlos oder unsinnig erscheint.

Ich würde also in Ihrem Fall eine dialektische Mischung aus Einhaltung von (ungeschriebenen) Regeln und Nichteinhaltung dieser Regeln praktizieren. Damit Ihr Sohn dabei nicht verwirrt wird, kann man ihn erläutern, dass er manches nicht machen soll, weil dies andere Leute ärgert, verletzt, irritiert etc. und ihn gleichzeitig aber auch weitest gehende Freiheit gibt, das zu tun, was seiner Natur entspricht.

 

 

 

Frederik Perls hat dies in einem größeren Zusammenhang sehr schön formuliert:

 

"3. Kindliche Gefühle und das Irreale, Ungeduld, Halluzinationen, Aggressivität. Freud hat von Reifung auch als von Anpassung an die `Realität` und Unterdrückung des `Lustprinzips` gesprochen. Dies geschieht, so meinte er, durch Verschiebung von Befriedigungen auf einen günstigen Zeitpunkt, durch Verzichtleistungen und `Sublimierung`, das heißt durch Finden sozial gebilligter Formen der Spannungsabfuhr.

Es ist ziemlich klar, dass Freud, der unter dem dicken Pelz seines Paternalismus oft ein kindliches Herz verriet, diese Art Reifung sehr pessimistisch ansah; er glaubte, dabei würden Glück und Wachstum des einzelnen den Fortschritten der Gesellschaft und der Kultur untergeordnet, oft warnt er, dass dies bereits gefährlich weit gegangen sei. Und kühl betrachtet, so wie Freud es formulierte, ist die Anpassung an die `Realität` ja gerade neurotisch: ein absichtliches Eingreifen in die organische Selbstregulierung und Umwandlung spontaner Befriedigungen in Symptome. So gesehen ist die Kultur eine Krankheit. In dem Maße, wie all dies notwendig ist, besteht die vernünftige Haltung gewiß nicht darin, von der Reife zu schwärmen, sondern Therapeut wie Patient müssen lernen, sich über sie zu empören, so wie Bradley gesagt hat: `Dies ist die beste aller möglichen Welten, und jeder ehrliche Mann hat die Pflicht, zu sagen, dass sie ein Dreck ist.` Dies hätte außerdem den Vorteil, Aggression in eine berechtigte Anklage auszulassen.

Frederick S. Perls; Paul Goodman; Ralph F. Hefferline: “Gestalttherapie. Grundlagen“, dtv, 1979, S. 88-89

Titel der amerikanischen Originalausgabe: Gestalt Therapy. Excitement und Growth in the Human Personality. The Julian Press, New York 1951

 

 

 

Gruß Peter Thiel

 

 

 


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